Netzwerken? Hab ich im Unterricht gelernt…


oder: Wie man kompetentes Handeln in einer vernetzten Gesellschaft im Unterricht einüben kann.


tldr: Netzwerken zu können, ist heutzutage wichtig. Es kann gelernt werden. Auch im Unterricht.


Seit einigen Jahren steht eine Fähigkeit immer wieder im Fokus der Betrachtung von Bildungsbloggern, die manchmal etwas vage umrissen, manchmal mit Hilfe weiterer Fachbegriffe erläutert und immer als bedeutend charakterisiert wird: das Netzwerken.

Dejan Mihajlovic weist in seinen Blogbeiträgen, Tweets und Vorträgen häufig auf eine notwendige Zeitgemäßheit des Unterrichtens hin, die sich in einer Forderung niederschlägt:

„Allein die steigende Komplexität gesellschaftlichen Zusammenlebens bedingt, sich in flexiblen, kollaborativen, offenen Netzwerken, Prozessen und wandelnden Rollen kritisch denkend bewegen zu können […]. In anderen Worten: Netzwerken können.“

Zitiert aus: Mihajlovic, Dejan: Digitale Transformation – Netzwerken und Zeit. (2018)

Wenn Jöran Muuß-Merholz in seinem Video Die Pinguin-Medienmetapher: eine etwas andere Definition von digitalen Medien  über die grüne und die blaue Medienwelt spricht, dann wird deutlich, dass es uns im Bildungskontext immer wieder darum gehen muss, unseren SchülerInnen das „Fliegen“ in der aktuellen Medienwelt erfahrbar zu machen.

„Wir Menschen stehen […] staunend vor dieser neuen Medienwelt, in der es nicht mehr nur das grüne, sondern auch das blaue Medium gibt. Wir versuchen rauszufinden, wie dieses neue Medium funktioniert, wie es tickt, wie es sich anfühlt, was funktioniert und was auch nicht gut funktioniert.“

Zitiert aus: Muuß-Merholz, Jöran: Die Pinguin-Medienmetapher: eine etwas andere Definition von digitalen Medien (2018)

Lisa Rosa nimmt den zu beobachtenden Wandel als Ausgangslage für ihre Forderung nach Veränderungen im Bildungsbereich. Sie berichtet von einem veränderten Denken und Lernen.

Epochenvergleich von Lisa Rosa CC BY-SA

Anders als beim behavioristischen Lehr-Lern-Modell des Industriezeitalters spielt die Vernetzung auch für sie im Digital-Zeitalter eine entscheidende Rolle. Da ich den Begriff „Externalisieren“ so passend finde, habe ich ihn von ihr (bzw. von Wygotski) übernommen.


Es hat immer Menschen gegeben, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit in Ihrer Welt bewegt haben, die überzeugt und überzeugend mit ihrem Umfeld kommuniziert, gelernt und gearbeitet haben. In einer vernetzten Welt wie der unseren, sind es die Möglichkeiten, Regeln und Begrenzungen des Netzwerks selbst, die wir kennen und für uns nutzen können sollten. Sonst wird statt traumwandlerischer Sicherheit die Unsicherheit unser Denken und Handeln begleiten.

Wenn nun professionelles Netzwerken eine wichtige persönliche und gesellschaftliche Fähigkeit ist, wie lässt sich dieses Netzwerken im Unterricht für Schüler erfahrbar machen?

Ich wollte in einer Session beim Educamp in Hattingen 2018 hier ansetzen und mich dieser Netzwerk-Kompetenz – der Fähigkeit in der blauen Medienwelt zu fliegen – nähern. Hierbei habe ich mich allerdings zumindest ein stückweit von den bisherigen Formulierungen, von Medienkompetenz, Digital Literacy und den 4K gelöst und meine eigene Netzwerk-Erfahrungen, (die sich zum großen Teil mit den Aussagen der oben angesprochenen ExpertInnen decken*) als Basis genommen, um Subkategorien dieser Netzwerkkompetenz einige Unterrichtshandlungen zu definieren, die das Netzwerken für Schüler erfahrbar machen. Sicherlich mag es hier noch weitere geben.

Meine Hoffnung war, von den Erfahrungen und/oder der Fantasie meiner SessionteilnehmerInnen zu profitierten, die sich möglichst konkrete Unterrichtsszenarien ausdenken oder von bereits erprobten Szenarien berichten sollten, die einem oder mehreren der vier Bereiche zugeordnet werden können. Meine Hoffnung war auch, schon durch das bloße Anbieten der Session, durch das eigene Durchdenken, Strukturieren und Verbalisieren, zu einem Erkenntnisgewinn zu kommen (siehe Externalisieren weiter unten). Das klappt eigentlich immer. Ich habe noch nie nichts gelernt, wenn ich Teilgeber auf einem Educamp war.

Doch zurück zu den vier Netzwerkhandlungen.

Online Diskutieren

Der Ausbildung der Fähigkeit, einen argumentgestützten, kritischen Dialog zu führen, wurde auch in der vordigitalen Zeit zu Recht Unterrichtszeit eingeräumt. Wenn man einen selbstbestimmten, mündigen Bürger und demokratische Teilhabe an der Gesellschaft als ein Ziel von Bildungsprozessen anstrebt, muss das Diskutieren in der Schule geübt werden. Dies gilt auch im digital geprägten Zeitalter. Digitale Kommunikationswege brachten aber ihre ganz eigene Diskussionskultur hervor, z.T. verursacht durch die technischen Gegebenheiten (wie etwa eine Zeichenbegrenzung), z.T. verursacht durch ganz klassische Missverständnisse, die durch die schnelle Austauschgeschwindigkeit und ggf. auch durch die (an sich ja wertvolle) Anonymität der Diskutanten schneller auftreten.

In einer solchen Online-Diskussionskultur zu bestehen, muss gelernt werden.


Session-Ergebnis der Gruppe zum online Diskutieren (CC BY 4.0 international von got2bees)

Besonders interessant finde ich den Ansatz, nicht nur mit der eigenen Klasse sondern auch mit ExpertInnen zu kommunizieren (Ring a scientist wurde u.a. mal beim Podcast Open Science Radio vorgestellt). Aber, um dem Ziel wirklich gerecht zu werden, wäre es auch hier wichtig, mit den Experten zu diskutieren und sich nicht lediglich (fern-)belehren zu lassen. Da kommen mir gleich ein paar Ideen…
Ich selbst lasse gerne zunächst im geschützten Klassenforum diskutieren. Eine Progression, im Sinne einer zunehmenden Öffnung, wie es auf dem Plakat zu finden ist, sehe ich ebenfalls als wünschenswert an.

Recherchieren und kuratieren

Menschen recherchieren, seit es Medien gibt, in denen sich Informationen finden lassen. Aber selbst noch zu Zeiten des Web 1.0, als fast nur Personen, die dafür bezahlt wurden, ins Netz geschrieben haben und der große Rest der Gesellschaft weitgehend auf den Konsum des Geschriebenen beschränkt war, war man am Ende einer Recherche mit seinem Ergebnis allein. In der heutigen Netzwerkgesellschaft kann man jedoch das Gefundene kuratieren und anderen zur Verfügung stellen. Man kann zur Mitarbeit und zur Kommentierung aufrufen und bekommt so wertvolle Meinungen, Einordnungen und weitere Ergebnisse aus seinem Netzwerk zurück. (Die Fähigkeit zur Online-Diskussion [s.o.] könnte hier erneut benötigt werden).

Session-Ergebnis der Gruppe zum Recherchieren + Kuratieren (CC BY Nettwörker)

Besonders interessant finde ich den Bereich „mögliche Fehler“. Hier bieten sich starke Gesprächsanlässe mit der Klasse an. Gibt er einen Filterblasen-Effekt? Konnten die Quellen korrekt eingeschätzt werden? Und auch einige der vorgeschlagenen Tools scheinen mir gut geeignet, das Recherchieren und Kuratieren im Netzwerk erfahrbar zu machen. Ich selbst lasse gerne mit dem Dienst Padlet kuratieren und anschließend bewerten, kommentieren und erweitern.

Remixen

Remixen als Netzwerk-Kompetenz? Wurde nicht auch in der vordigitalen Zeit schon geremixt? Von sampelnden Hip-Hoppern bis zu schnibbelnden Lehrenden, die ein Arbeitsblatt passend für ihre Lerngruppe zusammenklebten? Das ist zwar richtig, aber die Digitalisierung hat die Möglichkeiten des Kopierens erheblich erleichtert und in einem Netzwerk in dem jeder nicht nur Empfänger sondern auch Sender ist, erfährt die Praxis des (veränderten) Wiederverwendens ganz neue Blüten („Meme-Kultur“). Wir befinden uns in einer Copy-Paste-Gesellschaft. Aber wenn es um die Schule geht, verbinden Lernende (und auch die meisten Lehrenden) mit Copy-Paste meist etwas Ungehöriges. Da schmückt man sich mit fremden Federn und bringt keine eigene Leistung. Wenn die betrügerische Abgabe einer fremden Hausarbeit der einzige Berührungspunkt mit dieser Art der Netzwerk-Aktivität ist, dann ist diese Einstellung nachvollziehbar. Aber wo kämen wir hin, wenn Gedanken, die von einem Menschen niedergeschrieben würden, nicht aufgenommen und weitergedacht werden würden? Durch remixen kann Größeres entstehen.
In Netzwerken kann ein Kopiervorgang die Reichweite eines Mediums erweitern und so schon an sich einen Wert darstellen. Im Unterricht, in dem nach wie vor auch die Bewertung eigenständiger Schülerleistungen eine Rolle spielt, sind vor allem zwei Dinge beim Umgang mit fremden Materialien bedeutend:

  1. Die Einordnung, Einbindung und/oder Erweiterung fremden Materials ist eine besondere eigene Leistung, die eingefordert und gewürdigt werden kann.
  2. Die klare Kennzeichnung des fremden Materials muss aus moralischen, wissenschaftlichen und juristischen Gesichtspunkten tadellos vorgenommen werden.

Das muss man üben. Das geht nicht von allein.


Session-Ergebnis der Gruppe zum Remixen (CC0):

Besonders interessant finde ich den Ansatz der Verbesserung (im Sinne einer Weiterentwicklung) der Werke anderer MitschülerInnen. Auf dem Kongress #excitingEDU18 werde ich ein entsprechendes Unterrichtsszenario vorstellen, das diese Arbeitsweise aufgreift.
Auch die Einführung in offen lizenzierte Materialien, wie es auf dem Plakat zu finden ist, halte ich für dringend geboten. Ich selbst lasse gerne meine SchülerInnen frei lizenzierte Bilder nutzen, um ihre Produkte zu visualisieren. So lassen sich nach und nach die lizenzrechtlichen Gegebenheiten kennenlernen, die auch im Anschluss an die Schullaufbahn wichtig sind, für eine Teilhabe am Diskurs im Netz.

Produzieren und Externalisieren

Wenn SchülerInnen etwas produzieren, in dem Wissen, dass sie es anderen vorstellen müssen, erhöht sich die Relevanz für die Produzierenden. Und externalisiert in einem Netzwerk, ergibt sich auch hier wieder die Möglichkeit des Lernens durch Rückmeldungen. Ich persönlich nutze diesen Effekt gerne im Vorfeld von Veröffentlichungen. Stelle ich die Rohfassung eines Artikels zur Diskussion ins Netz, bekomme ich Rückmeldungen, die ich wiederum in die Endfassung einfließen lassen kann.


Session-Ergebnis zum Produzieren und Externalisieren (CC BY Die Obstler)

Besonders interessant finde ich, dass hier offensichtlich schon viel erprobt wurde, denn die Beschreibung der Projekte deutet auf konkrete Erfahrungen hin. Von der Klasse 5 bis zur Klasse 10 werden einige Varianten angesprochen. Ich finde es wichtig, dass hier der „Rückkanal“ gleich mitgedacht wird und, dass das Produkt die Anregungen aus dem Netzwerk noch aufnehmen kann. Wenn man z.B. von MitschülerInnen auf einen sachlichen Fehler in seinem selbst produzierten Wiki-Text hingewiesen wird, ist eine Verbesserung leicht möglich. Bei selbst produzierten Filmen ist das schon schwieriger. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten.

Ein weiterer Schwerpunkt der Session-Teilnehmergruppe sind Fallstricke, zum Beispiel beim notwendigen Blick auf den Datenschutz oder wenn darauf verwiesen wird, dass Öffnung auch Druck bedeuten kann. Die Öffnung von Unterricht sollte meines Erachtens tatsächlich nach und nach angebahnt werden. Sie ist wertvoll, erhöht die Relevanz von Unterricht und schafft neue Möglichkeiten des Austauschens und des Lernens, kann aber auch überfordern. Viele der Netzwerk-Handlungen sind mit einer Öffnung von Unterricht verbunden. Openess ist, wie ich finde, eine eigene Session bzw. einen eigenen Blogbeitrag wert. Das muss ich bei Gelegenheit mal angehen…

Abschließende Überlegungen:

  • Die vier Unterrichtshandlungen sind von mir in einer Mindmap dargestellt worden. Das bedeutet aber nicht, dass sie streng getrennt voneinander gedacht werden können. Es gibt vielfach Überschneidungen. Wer z. B. externalisiert und Rückmeldung erbittet, befindet sich sehr schnell im Bereich „online diskutieren“.
  • Begrifflichkeiten, wie Kollaboration, Kommunikation, kritisches Denken, Kreativität und auch Medienkompetenz, Selbstbestimmtheit und Lernerzentriertheit, die sich in vielen Beiträgen und Diskussionen um das Lehren und Lernen in einer digital geprägten Welt finden lassen, sind zwar in der Übersicht der Netzwerk-Handlungen ausgespart worden, sie finden sich aber vielfach in den Unterrichtsszenarien wieder.
  • Vernetzung kann im Unterricht simuliert werden. Schüler besitzen in der Regel noch kein umfangreiches Persönliches Lernnetzwerk (PLN), zumal dies auch noch multifachlich ausgerichtet sein müsste, um es in jedem Unterricht nutzen zu können. Ein wohl gepflegtes Netzwerk ist aber Grundlage für ertragreiche Rückmeldungen. Interesse und Engagement sind die Antriebsfedern guter Rückmeldungen in einem „natürlichen“ PLN. Diese werden in einem reinen Klassen-Netzwerk ersetzt durch den Arbeitsauftrag der anderen Klassenmitglieder (die hoffentlich trotzdem interessiert und engagiert sind). Sie geben die notwendigen Rückmeldungen. So können typische Handlungen erprobt und erfahrbar gemacht werden – es bleibt aber ein „künstliches“ Netzwerk. Ob diese Unterrichtsszenarien tatsächlich Auswirkungen auf die Netzwerk-Kompetenz der SchülerInnen außerhalb des Schonraums Schule hat, müsste mal untersucht werden. Ich hoffe es jedenfalls. Ein hiermit verbundener Diskussionspunkt, der in der Session angesprochen aber nicht zu Ende gedacht wurde: kann eine Schule den Aufbau eines PLN unterstützen oder gar einfordern?Ich wüsste gerne, wie so ein Aufbau eines PLN in Schule gelingen könnte. Schade eigentlich, dass erst in einem Jahr wieder Educamp ist. Das wäre eine Session wert…

*Die Frage, wie sich dieses Netzwerken in den Unterricht integrieren lässt, stellt Lisa Rosa in einem Kreislauf aus Verinnerlichung, Veräußerlichung, Kommunikation und Kollaboration dar. Konkret zeigt sie dies am Beispiel von Blogs auf, die von Lernenden erstellt werden.


CC BY 4.0
Weiternutzung als OER ausdrücklich erlaubt: Dieses Werk und dessen Inhalte sind – sofern nicht anders angegeben – lizenziert unter CC BY 4.0. Nennung gemäß TULLU-Regel bitte wie folgt: „Netzwerken? Hab ich im Unterricht gelernt…“ von André Hermes, Lizenz: CC BY 4.0.

UPDATE: Auf der re:publica19 habe ich zu diesem Thema einen Talk gehalten. Das Video dazu habe ich hier eingebettet. Leider hat mir niemand gesagt, dass ich nicht so viel auf der Bühne rumtigern darf… ¯\_(ツ)_/¯
(Die Lizenzhinweise zum Video finden sich bei YouTube)


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