In seinem aktuellen Blogbeitrag beschriebt Jan-Martin Klinge, wie er mit seiner 11jährigen Tochter Carolina ein Experiment beginnt: An ihrer Schule, an der vorwiegend analog gearbeitet wird, versucht sie, in ihrem Unterricht ein Tablet anstelle von Schulheften zu nutzen. Mit diesem Blogbeitrag möchte ich darauf antworten, da mein anfängliches Ansinnen, das Kommentarfeld in seinem Blog zu nutzen, ausgeufert ist.
Dieser Beitrag hat mich deshalb so angesprochen, weil ich mich (bald) in einer ganz ähnlichen Situation sehe. In meiner Familie steht der Sprung an eine weiterführende Schule an und die Situation an den Schulen hier in Münster ist betrüblich. Natürlich gibt es Pioniere und kreative Köpfe an vielen Schulen, die versuchen, der gesellschaftlichen Entwicklung im Zeitalter der Digitalisierung Rechnung zu tragen. Aber die Bedingungen werden hinter vorgehaltener Hand als katastrophal bezeichnet. Und zwar von Personen, die es einschätzen können. Deshalb stellt sich auch für mich bald die Frage: Wie reagieren wir als Familie auf diese unzeitgemäße Ausstattung? Ist das Experiment der Familie Klinge vielleicht auch etwas für uns?
Der zweite Grund warum mich der Beitrag angesprochen hat, liegt in der Tatsache begründet, dass ich versuche, bei meiner eigenen Schule die Entwicklung zu fördern. Und hier stellt sich durchaus die Frage, inwiefern die „Digitalisierung von unten“ zum Entwicklungsprozess beitragen kann.
Reaktionen
Für den Blogbeitrag erntete der Autor Interesse, Vorschläge und auch Kritik. Z. B. diese:
Kann die allg Begeisterung nicht teilen, weil a.) ein Kind (von oben bestimmt) als Versuchsobjekt eingesetzt und b.) nur digitalisiert wird.
— Dejan Mihajlović (@DejanFreiburg) 31. Oktober 2017
Den Punkt a) in Dejans Tweet kann ich nicht beurteilen, da ich nicht dabei war. Möglicherweise haben Sätze wie „Nach nun zwei Monaten habe ich Carolina freigestellt, wieder auf ein Heft zu wechseln“ zu der Einschätzung geführt, das Experiment wäre unter erheblichem elterlichen Zwang verlaufen. Ich vermute hingegen, dass ihrerseits im Vorfeld durchaus Interesse und Bereitschaft vorlagen.
Den Punkt b) möchte ich genauer kommentieren. Zunächst einmal hat Dejan völlig Recht mit seiner Einschätzung: Es wird (bisher) lediglich digitalisiert. Er bezieht sich hier indirekt vermutlich auf das SAMR-Modell, das aufzeigt, dass eine bloße Ersetzung (= Substitution) des Analogen durch etwas Digitales wenig bis gar keinen „Mehrwert“ hat. Ferner bezieht er sich vielleicht auf das 4K-Modell, das einen kreativen, kollaborativen, kommunikativen Unterricht einfordert, in dem kritisch gedacht wird. Ob das im Unterricht stattfindet, ist aus dem Blogbericht nicht genau ablesbar, die Art und Weise, wie Carolina (bisher) die Technik nutzt, lässt zumindest nicht darauf schließen, dass die technischen Möglichkeiten dahingehend ausgeschöpft werden.
Carolina ist somit in einer ähnlichen Situation und reagiert ähnlich wie der Schüler Dominik Müller vor einigen Jahren. Der hat ebenfalls als einsamer Streiter ein Tablet anstelle von Schulheften genutzt. Er hat dann in einem Blog und in einem Vortrag darüber berichtet und (zurecht) sehr viel Aufmerksamkeit, Aufmunterung und Anregungen bekommen.
Das Blog unter https://t.co/4I7MvYehrG und der dazu gehörende Vortrag auf den Kremser #edudays unter https://t.co/EQPrvxhiDc
— Torsten Larbig (@herrlarbig) 31. Oktober 2017
Niemand ist damals auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, er solle das doch bitte lassen, weil er mit seiner Ersetzungsstrategie ja gar nicht den Unterricht revolutioniere. Natürlich nicht. Das war ja auch nicht seine Aufgabe. Er hat auf seine Weise auf die Bedingungen in seiner Schule reagiert. Wie Familie Klinge.
Hier ist Dejans Einwand missverständlich. Es kann nicht gemeint sein, dass eine Schülerin dafür verantwortlich sein soll, dass ihr Unterricht in den R-Bereich des SAMR-Modells vorstößt und dass er den 4k entspricht. Dafür ist der Lehrer zuständig. Und die Schulleitung. Und der Schulträger. Aber nicht die Schülerin.
Ich finde, dass es eine gute Idee ist, ein solches Experiment zu wagen…
Man lernt durch die oben beschriebene Substitution einige grundlegende Dinge. Die sind dermaßen grundlegend, dass sie vielen, die täglich mit digitalen Geräten arbeiten vielleicht gar nicht mehr lernenswert erscheinen. Sind sie aber. Als Lehrer, der seit Jahren auch ITG-Kurse in der 5. Klasse gibt, stelle ich fest, dass viele Schüler sich mit den Grundlagen schwertun. Sie können sich keine Passwörter merken, können nicht speichern, können Gespeichertes nicht wiederfinden und stoßen bei Internet-Suchen sehr schnell an ihre Grenzen. Sie geben eine URL in die Google-Suchmaske ein und sie tun sich schwer mit Kommunikationswegen (außer WhatsApp). Geschweige denn, dass sie ihre digitalen Ergebnisse strukturiert benennen, sortieren, und kategorisieren können, sie verknüpfen, taggen oder digital erweitern oder gar gezielt freigeben oder teilen können. Das können sie auch nicht können. Denn dazu muss man diese grundlegenden Erfahrungen erst einmal machen. Und das ist mit dem individuellen Einsatz des Tablets, wie es in dem Halbtagsblog beschrieben ist, durchaus möglich.
… aber ist so die „Digitalisierung von unten“ möglich?
Die Idee Hoffnung, die in „Digitalisierung von unten“ steckt, zeigt einen charmanten Ansatz, den ich grundsätzlich sehr begrüßenswert finde: Wenn der Unterricht nicht zeitgemäß ausgerichtet ist, können SchülerInnen dies … sagen wir: anregen. Wenn sie „irgendwo“ gelernt hätten wie man z. B. international-kollaborativ Erklärvideos erstellt, sie interaktiviert und in einem internen Forum gegenseitig würdigt, kritisiert und bewertet, könnten Sie das auch jedem vorwiegend analog arbeitenden Lehrer als Alternative vorschlagen, wenn dieser das nächste Mal die Erstellung eines analogen Lernplakats ansetzt.
Das ist der Grund, warum ich die vielen „bisher“, bezogen auf die (bisherige) Tabletnutzung, in den Text eingefügt habe. Eine Schülerin, die zunächst lediglich das Analoge durch das Digitale ersetzt, muss ja nicht auf dieser Ebene stehen bleiben. Aber auch hier gilt: Das geschieht nicht von heute auf morgen. Dazu muss man zum einen die grundlegenden Erfahrungen machen. Zum anderen muss man sich tatsächlich auch in den kreativ-produktiven und transformativen Bereich wagen. Wenn diese Arbeitsweise nicht in der Schule im Unterricht eines Lehrers oder in einer Art „Medienunterricht“ oder entsprechenden Arbeitsgemeinschaften erprobt werden, bleibt nur noch die Möglichkeit, diese Dinge im familiären Umfeld auszuprobieren. Ansonsten ist eine „Digitalisierung von unten“ nicht zu erwarten, da tatsächlich nur „ersetzt“ wird und wenig Anreiz besteht, Bewährtes zu hinterfragen. (Damit wären wir an einem Punkt, der im Blogbeitrag noch wünschenswert gewesen wäre. Wie sieht das familiäre „Begleitprogramm“ aus?)
Ich denke, das auf diesen Punkt die Kritik von Dejan abzielt. Die Hoffnung, dass die Digitalisierung durch eine Graswurzelbewegung in den Unterricht Einzug erhält, wird für Carolina und ihre Schule vermutlich enttäuscht, wenn nicht andere, wirkungsvollere Bedingungen erfüllt sind. Das betrifft vor allem die Art und Weise, wie wir Unterricht sehen und wie wir ihn gestalten. Aber auch die Ausstattung der Schule, die Fortbildung und Begeisterung der Lehrkräfte, die finanzielle Unterstützung, die Administration und Wartung der Technik, die Implementierung innerhalb und außerhalb des Fachunterrichts und die Erarbeitung eines starken aber flexiblen Konzepts für die Planung, Umsetzung und Evaluation des Lernens und Lehrens im digitalen Zeitalter an der Schule. Aber sollten Klinges auf diese Dinge warten? Ich denke nicht. Sie sollten anfangen. So, wie sie es getan haben.
Alternative?
Und wäre nicht eine Alternative gewesen, den Unterricht zeitgemäßer zu gestalten und die Schule in der oben beschriebenen Weise weiterzuentwickeln. Ist das realistisch? Hat man als Elternteil so viel Einfluss? Andreas Schleicher hat mal das Bildungssystem mit einem Tanker verglichen (S. 15) und damit recht treffend, wie ich finde, die Schwerfälligkeit des Systems Schule beschrieben. Wer in einer Schule die Richtung ändern will, braucht einen langen Atem. Die Frage ist also nicht, soll ich als Elternteil zusammen mit meinem Kind ein Tablet-Experiment wagen oder soll ich langfristig schulpolitisch über Gremienarbeit auf eine zeitgemäße Bildung in der Schule drängen. Beides ist sinnvoll.
Und während ich hier meine Gedanken externalisiere, formt sich für mich eine Handlungsoption für die eigene und die Zukunft meiner Kinder. Danke Jan-Martin Klinge und danke Dejan Mihajlović.
PS: Habt euch lieb!
Schubidu
– Zitat nach Tobias Raue –
Dieses Werk von André Hermes ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Danke! Stimme dir voll und ganz zu.
Danke für den sachlichen Beitrag, André. Eine Ergänzung noch von meiner Seite: Dass eine Schülerin dafür verantwortlich sein soll, dass ihr Unterricht in den R-Bereich des SAMR-Modells vorstößt und dass er den 4k entspricht, habe ich nie gesagt. Ich stimme dir zu, dass Lehrer_innen zuständig sind. Jan ist Lehrer und seit Jahren im Netz. Meine Tweets bzw. Kritik beruhen darauf, wer so ein Experiment und mit welchem Ziel durchführt oder es für besonders hält. (So kam es erst in meine Timeline.) Bei Newbies hätte ich es begrüßt, unterstützt und mutig gefunden. Bei „alten Hasen“, die sich jahrelang über soziale Netzwerke austauschen, hat es mich stark gewundert, weil schon so viele durchdachtere Ansätze bekannt sind. Mehr nicht.
Aus Gründen komme ich leider erst heute dazu, auf die Kommentare zu antworten. Danke für deine Ergänzung und bis bald.
Man, man, man… Ein Problem mit vielen alten Hasen ist es, dass sie über die Jahre ziemlich weit von der Basis davongehoppelt sind. Ich finde es sehr begrüßenswert, dass ein alter Hase sich mit den ganz basalen Problemen beschäftigt, die das SAMR-„S“ mit sich bringt. Auch, wenn ich mit meiner ganzen Erfahrung von anderer Bildung träume und diese im Blick habe, so muss ich doch schauen, was realistisch erreichbar ist… Spatz – Hand – Taube – Dach
Was leider völlig untergegangen ist, ist die soziale Dimension des Ganzen:
Eine Tochter aus gutem Hause wird von ihrem Lehrer-Vater mit einem Werkzeug ausgestattet, das ihr Vorteile im bestehenden System bringt. Und durch den Matthäus-Effekt („Wer hat, dem wird gegeben“) vergrößert sich so die Kluft zwischen Schüler(innen) der Oberschicht und dem Prekariat. Das ist eben gerade keine „Digitalisierung von unten“, sondern von ganz oben.
Meine Kritik richtet sich gegen die Blindheit gegenüber dieser sozialen Dimension des Experiments: Klinge weiß, dass es einen „Unterschied zwischen einem Kind, dass (sic!) jahrelang mit digitalen Werkzeugen umgeht und solchen, die das nicht tun,“ geben wird, und schließt dennoch mit dem Fazit:
„Experiment geglückt, Nachahmen wird empfohlen.“
Und das ist entweder völlig naiv oder höchst zynisch, denn wenn dieses Modell Schule macht, werden wieder nur die sozial besser Gestellten von digitaler Technik in der Schule profitieren.
Aus Gründen komme ich leider erst heute dazu, auf die Kommentare zu antworten. Zunächst einmal Dank für die Rückmeldung.
Der ersten Aussage stimme ich zu. Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Experiments wird im Ausgangsartikel nicht thematisiert.
Wenn dort aber von der (ich fürchte, unbegründeten) Hoffnung geschrieben wird, dass so eine Digitalisierung von unten stattfinden kann, dann lese ich daraus, dass auch der Wunsch besteht, letztendlich allen Lernenden eine wie auch immer geartete „digitale Bildung“ zukommen zu lassen, also „der Oberschicht und dem Prekariat“.
In meinem Beitrag habe ich über „die finanzielle Unterstützung“ geschrieben, die notwendiger Teil eines umfassenden Medienkonzepts einer Schule sein müsste. Schaut man sich Konzepte an, in denen BYOD eine zentrale Rolle spielt, ist die Sozialverträglichkeit ein oft (aber nicht immer) genanntes Ziel, das durch unterschiedliche Maßnahmen erreicht werden soll.
Da aber tatsächlich in keinem der beiden Artikel dieser Aspekt im Fokus steht, rege ich einen weiteren Blogbeitrag an, der die gesellschaftlichen Auswirkungen einer ungesteuerten Technisierung aufzeigt.
Aber (derzeit) leider nicht von mir…
Man kann ja durchaus medienaffiner Lehrer und Vater sein. Und als Vater muss man weder naiv noch zynisch sein, um dieses Experiment als geglückt und nachahmenswert zu bezeichnen! In der Bildungslandschaft sollte man große Brötchen backen. Zu Hause tun es auch kleine…